Tony Carey
Lucky Us
Eine große Stimme meldet sich zurück: Auf seinem neuen Album „Lucky Us“ singt Tony Carey berührende Westcoast-Balladen und erzählt Geschichten aus seinem bewegten Leben, die gleichzeitig ein Kommentar zum aktuellen Weltgeschehen sind.
Vielleicht kennen Sie Tony Carey als US-amerikanischen Songwriter und haben Lieder wie „Room With A View“ und „A Fine, Fine Day“ im Kopf. Oder Sie kennen Tony Carey als Produzenten von Peter Maffay und lieben Alben wie „Tabaluga und das leuchtende Schweigen“. Oder Sie sind mit britischem Hardrock sozialisiert und erinnern sich an Ritchie Blackmore’s Rainbow, deren Keyboarder Tony Carey war. Ihre Eltern haben Ihnen früher Milva vorgespielt? Bingo – Carey hat sie produziert. Das sind sehr verschiedene Tony Careys und doch sind sie ein und derselbe Mann. Der 1953 in Watsonville, Kalifornien geborene Multiinstrumentalist ist ein lebenslang Reisender in Sachen Kreativität, der sich unverschämter Weise nicht vorschreiben lässt, welche Musik er spielt. „Vermutlich wäre meine Karriere gradliniger verlaufen, wenn ich mich auf einen Stil festgelegt hätte“, sagt Carey, „aber das wollte ich nicht – ich mache einfach, was mir gefällt.“
Sein neues Werk, „Lucky Us“, knüpft an den eingangs erwähnten US-amerikanischen Sound an – hier liegt die Wurzel seines Schaffens. Und doch ist „Lucky Us“ wieder etwas, das Carey noch nie gemacht hat: ein Album mit Piano und Orchester. „Die Welt um uns herum gerät aus den Fugen“, erklärt Carey, „ich glaube, was wir jetzt brauchen, ist eine warme Decke und Ruhe.“ Wirklich? Man hatte vielleicht eher die Rückkehr von Carey bahnbrechendem Project Planet P erwartet, mit dem er in den 1980er- Jahren der Welt mit faszinierender Musik Unterricht in Geschichte und politischer Bildung gab, Hitler- Samplings inklusive „Ich neige dazu, in einigermaßen ruhigen Zeiten davor zu warnen, was kommen könnte. Wenn es dann passiert, sprechen die Geschehnisse für sich selbst. Ich muss nicht auch noch von ihnen singen.“
Hört man die Songs von „Lucky Us“, ist man dankbar für diese Haltung. Carey singt am Flügel wehmütig-schöne Lieder, in denen ein tief empfundener US-amerikanischer Ton schwingt – man denkt an Jackson Browne, Bruce Springsteen und die Eagles, aber man hört Tony Carey, der zur selben Zeit wie diese Kollegen mit dem Songschreiben begann und ein zeitloses Gefühl transportiert. Man rollt sich in diese Lieder ein wie in eine Decke.
Carey singt Geschichten von früher, zum Beispiel bei „Hawkeye Road“, das ist die Straße in Turlock, California, in der er aufwuchs. „Ich verbrachte meine Tage mit meinen Freunden gegenüber von unserem Haus in einem Wallnussfeld. Zwischendurch rief meine Mutter uns zum Essen, aber ansonsten waren wir draußen, unbeschwert, fröhlich, sicher.“ Heute ist die holprige Hawkeye Road vierspurig und heißt Hawkeye Avenue, Turlock hat 70.000 statt 7.000 Einwohner. „They say you can never go home again / If you do there won’t be anyone there“, singt Carey, und es steckt einem ein Kloß im Hals. „Für mich ist das kein schmerzhaftes Gefühl, eher ein tröstliches: Du stellst dich in den Fluss der der Zeit und lebst dein Leben in dem Wissen, woher du kommst.“
Eine ähnliche Art von lebensumarmendem Trost steckt in dem eigentlich erschreckenden „The Wind“, das unter dem Eindruck von Donald Trumps „fire and fury“-Drohungen an Nordkorea im August 2017 entstand. Carey singt davon, wie eine Atombombe auf Frankfurt am Main fällt. Carey, der gut 40 km entfernt von der Mainmetropole wohnt, setzt sich in dem Lied mit seiner Familie auf die Terrasse und sieht zu, wie sich der Atompilz in nihilistischer Schönheit am Himmel entfaltet. Gut vier Minuten später kommt die Druckwelle. „Natürlich ist das ein entsetzlicher Gedanke. Als Familienvater ist es meine moralische Pflicht, meine Frau und meine Kinder so gut wie möglich zu beschützen. Aber ich kann den Wind nicht aufhalten, ich kann nur sagen: Ich liebe dich und ich werde bei dir sein. Das kann einem niemand nehmen.“ So sind die Lieder auf „Lucky Us“: Sie machen ihren Frieden damit, dass die Dinge kommen, wie sie kommen, weil man trotzdem ein Mensch bleibt, der liebt. Daran prallt der Irrsinn der Zeit ab.
Careys Musikkarriere beginnt, als er mit seinen Eltern (Papa ist Entomologe, Mama Malerin) 1969 von Turlock, Kalifonien nach Westport, Connecticut umzieht. Der begabte Musiker überlegt kurz, die
Laufbahn des Orchestermusikers einzuschlagen, entscheidet sich aber für den Rock’n’Roll. Careys erste Band, Blessings, entsteht an der Ostküste, doch die Formation (in der er Keyboards spielt) zieht bald mit einem Plattenvertrag im Gepäck nach Los Angeles. Doch dort fällt sie dem für seinen Perfektionismus berüchtigten Steely-Dan-Produzenten Gerry Katz zum Opfer – die Aufnahmen dauern eineinhalb Jahre, das Album wird nie fertig. Ritchie Blackmore hört Carey beim Orgelspielen durch sieben Wände und rekrutiert ihn für seine Band Rainbow – der Rest ist Hardrock-Geschichte. Ãœber Frankreich führt Careys Weg nach Deutschland, wo er seither lebt. Carey veröffentlicht wundervolle Soloalben, darunter „Some Tough City“ (1984) und „Blue Highway“ (1985), die auf beiden Seiten des Atlantiks für Furore sorgen. Das Lied „Room With A View“ (1988) entsteht für den ARD-Dreiteiler „Wilder Westen“ und wird Careys hierzulande größter Erfolg. Die Begegnung mit Peter Maffay führt zu einer jahrelangen Zusammenarbeit, in deren Verlauf Carey mehrere Alben des deutschen Megastars produziert. Dasselbe tut er über die Jahre u. a. für Jimmy Barnes, John Mayall, Chris Thompson, José Carreras, David Knopfer und besagte Milva. Zudem entstehen eine Handvoll Alben mit seinem Planet P Project, in dem der Multiinstrumentalist Electro, 80s-Sounds und Progrock zueinander bringt.
Weil Carey mit der Plattenindustrie nicht nur gute Erfahrungen machte, produzierte er seit Mitte der achtziger Jahre diverse Alben im Alleingang und versorgte die weltweite Fangemeinde aus seinem Webshop mit physischen Tonträgern. 2019 wird ein knappes Dutzend dieser Alben als Remasters bzw. (zum Teil) Remixes erstmals für die breite Öffentlichkeit erscheinen. Ein Mammutprojekt.
„Ich habe mich lange rausgehalten aus dem Musikbusiness“ sagt Carey, „aber ich finde, die Dinge ändern sich – das Web eröffnet bei allen Gefahren neue Möglichkeiten, die eigene Musik zu den Leuten zu bringen, ohne von Plattenfirmen abhängig zu sein.“
Die Fülle des musikalischen Materials entspricht der Fülle an Wissen und Erfahrungen, die Tony Carey in 40 Jahren Musikersein gesammelt hat. Und sie bereitet den Weg für „Lucky Us“, an dem man das gesammelte Erleben, Verstehen und Können von Tony Carey in wundervollen Songs spürt.
Fragen Sie diesen Mann: Er hat etwas zu sagen.
​
von Jörn Schlüter